Generation Koffer
Es gibt im Schamanismus die These, dass sich in Schocksituationen Anteile der Seele vom Körper entfernen. Sie gehen nicht ganz verloren, sie entfernen sich nur.
(Gürkan, 46 Jahre, “Generation Koffer”)
Die eigentliche Integrationsarbeit, die die zweite Generation der so genannten Gastarbeiterkinder leistete, ist nicht die gemeinhin vermutete und täglich medial präsente. Die innere Integration der Kofferkinder, ihrer beiden kindlichen Gefühlswelten hatten nur wenig mit Konflikten zweier Kulturen oder mangelnden Sprachkenntnissen zu tun. Gülçin Wilhelm erzählt in ihrem Buch „Generation Koffer“ die Geschichte von 700.000 Kindern, die in den 60’ern oder 70’ern von ihren Eltern bei Großmüttern oder Tanten zurückgelassen und später wieder oder gar nicht nach Deutschland geholt wurden, somit zwischen zwei Gefühlswelten und Bezugspersonen hin und her pendelten.
Mich wundert dieser Umfang, denn gefühlt hätte ich die Zahl höher geschätzt. Die Biographien, die geschildert werden, decken sich mit den unterschiedlichen, aber doch ähnlichen Erfahrungen meiner Geschwister, meiner eigenen oder denen von Bekannten, Freunden und Nachbarn. Als ich das Buch las, war ich sehr erstaunt über die präzise und empathische Wiedergabe verschiedener Gefühls- und Denkmuster. Ein blinder Fleck der Migrationsgeschichte, dessen Aufarbeitung längst überfällig ist.
Was sind Kofferkinder?
Die Begriffe “Pendelkinder” oder “Kofferkinder” stehen symbolisch für die Sehnsucht nach den Eltern, später nach der Oma oder gar für das Gefühl der Unvollständigkeit im Gepäck, keine Gefühle für die Eltern entwickeln zu können, weil diese einem fremd sind.
„Ein Bein drin, ein Bein draußen – für alle Fälle gewappnet gegen jegliche Gefahr. Das illustriert perfekt meinen dauernden inneren Kampf.“
(Ilker, 33 Jahre, “Generation Koffer”)
Erst als Erwachsene setzen sich viele, der heute 35- bis 50-Jährigen mit ihrer Kindheit auseinander. Die Kofferkinder fühlen sich nicht als Opfer, wenngleich sie als Kinder zu „Opfern“ wurden. Ausgerechnet diese Generation, die die Folgen der Migration unmittelbar erlebt hat, zeichnet sich durch beruflichen Erfolg und einer guten Bildung aus, bekleiden heute Leitungspositionen oder nehmen beruflich oder ehrenamtlich Brückenfunktionen zwischen zwei Kulturen ein. Sie sind in den deutschen Medien der wohl sichtbarste Teil.
Die Ursache für den Erfolg sehen Autorin Wilhelm und die Experten, die im Buch zu Wort kommen, in dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Das zurückgelassene Kind entwickelt Schuldgefühle, die es durch das Verlassen werden durch die Eltern empfindet und versucht über den Erfolg in der Schule dieses zu kompensieren. “Einem Großteil der Kofferkinder ist es gelungen, gewisse Fähigkeiten und die Werte, die sie aus der Türkei mitbrachten, mit jenen ‘deutschen’, mit denen sie sich später identifizierten, in Verbindung zu bringen.”, erklärt Gülçin Wilhelm.
Viele „Kofferkinder“ haben bis heute eine zwiespältige Beziehung zu ihren Eltern. In ihrer Kindheit wirkten die Eltern immer unrealer, fast wie magische Wesen, die aus dem Nichts auftauchten und wieder verschwanden, wenn die Sommerferien endeten. Gleichzeitig konnten viele von ihnen nie eine enge Bindung zu ihren Eltern aufbauen, was Nähe und Urvertrauen betrifft.
Viele „Kofferkinder“ haben bis heute eine zwiespältige Beziehung zu ihren Eltern. In ihrer Kindheit wirkten die Eltern immer unrealer, fast wie magische Wesen, die aus dem Nichts auftauchten und wieder verschwanden, wenn die Sommerferien endeten. Gleichzeitig konnten viele von ihnen nie eine enge Bindung zu ihren Eltern aufbauen, was Nähe und Urvertrauen betrifft. Die Ursache für den Erfolg sehen Autorin Wilhelm und die Experten, die im Buch zu Wort kommen, in dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit.
Ein Dilemma unter dem nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern litten. Der Mangel an echter Mutter-Kind-Beziehung wird mit großen Geschenkzeremonien und (meist) von den Müttern theatralisch überspielt. Doch die eigentliche Tragödie besteht darin, dass die damaligen Gastarbeiter nach Deutschland zogen, damit ihre Kinder es (materiell) heute besser haben sollten, aber damit ihren eigenen Kindern (emotional) das Leben schwer machten. Eine Aufarbeitung die längst überfällig ist. Dieses Buch sollte ins Türkische übersetzt werden, um auch der ersten Generation die Tür für eine Aufarbeitung und Aussöhnung zu öffnen.
Fazit zum Buch
Analytisch, tiefgründig und absolut lesenswert!
Gülcin Wilhelm: Generation Koffer. Die zurückgelassenen Kinder. Mit einem Vorwort von Cem Özdemir. Orlanda 2011. 240 Seiten, Euro 17,90, ISBN 978-3-936937-83-1.
Generation Koffer bei Orlando Verlag
Inhaltsverzeichnis
Gastarbeiter in Deutschland
Gastarbeiter waren Arbeitskräfte, die in den 1950er bis 1970er Jahren aus der Türkei und anderen Ländern nach Deutschland kamen, um in verschiedenen Branchen zu arbeiten. Insbesondere aus der Türkei wurden viele Gastarbeiter angeworben, um den Arbeitskräftemangel in Deutschland zu beheben. Diese Arbeitsmigration hatte einen großen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft.
Kofferkinder
Die Gastarbeiter brachten oft ihre Familien mit nach Deutschland. Einige Kinder, die während des Aufenthalts ihrer Eltern in Deutschland geboren wurden, wurden im Nachhinein auch als „Kofferkinder“ bezeichnet. Diese Kofferkinder wuchsen in Deutschland und der Türkei auf und wurden mit zwei Kulturen, der deutschen und der ihrer Eltern, aufgezogen. Die Eltern mussten viel arbeiten so dass sie die Betreuung an Verwandte in der Heimat weitergaben. Daher der Begriff durch das ständige hin und her reisen.
Türken in Deutschland
Die Türken in Deutschland haben eine faszinierende Geschichte als Gastarbeiter und ihre Präsenz hat sich seitdem stark entwickelt. Viele Türken sind in den 1960er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und haben den Grundstein für ihre Familien gelegt. Heute sind ihre Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, Teil der zweiten Generation, die sich erfolgreich integriert haben und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft aktiv sind.
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